, Melinda Nadj Abonji

Für Sie gelesen

Carl Albert Loosli: Administrativjustiz. Werke Band 2. Strafrecht und Strafvollzug. Rotpunktverlag, Zürich 2007.

«Unser Recht bedeutet nichts mehr und nichts weniger als paragraphierte Gewalt. Es geht nicht auf die Wohlfahrt der Gesamtheit als dem höchsten Gebot noch auf die Gerechtigkeit und Billigkeit aus, sondern es bezweckt lediglich die Aufrechterhaltung der Vorrechte und der Sicherheit seiner minderheitlichen Nutzniesser. Unter Sicherheit versteht es die Gewährleistung der Unantastbarkeit des Lebens, des Eigentums und der Macht der gerade führenden Oberschichten.» (S. 335)

Wie oft habe ich schon gedacht, dass die Schweiz eine unverschämt effiziente Propaganda betreibt, wenn es um ihr Selbstbild geht. Während der Lektüre von Carl Albert Looslis «Administrativjustiz» ist dieser Gedanke wieder auf eine unheimliche Art präsent und ausserdem irreführende Sätze wie «früher wusste man es nicht besser», «die Zeiten waren damals so». Sie werden vor allem dann aufgeboten, wenn es darum geht, geschehenes Unrecht zu legitimieren oder zumindest zu relativieren. Es ist aber, und das lässt sich für jedes historische Unrecht sagen, oft ohne grossen Aufwand möglich, das Gegenteil zu beweisen; dass es nämlich schon damals, zu früheren Zeiten Menschen gab, die gegen Missstände protestierten und unermüdlich gegen ihre als so selbstverständlich erachtete Gegenwart aufbegehrten und dadurch zu oft zum Feindbild der Mehrheit wurden. 
Der Autodidakt und Schriftsteller Carl Albert Loosli (1877-1959) gehört zu jenen, die man vergessen will, weil sie unangenehm deutlich machten, dass die Schweiz nicht so ist, wie sie zu sein vorgibt. Als Waise, Verdingkind und in einer Zwangserziehungsanstalt Weggesperrter erfuhr Loosli buchstäblich am eigenen Leib die weitreichende, brutale Politik der Schweiz gegen Arme, wie es ist, als Rechtloser in einem Rechtstaat zu leben. Bis 1981 (mindestens) wurden zehntausende Menschen «administrativ versorgt», wie es beschönigend hiess; Loosli nennt diesen Akt behördlicher Willkür »Administrativjustiz«. Sie fusst, so schreibt er, «(...) auf der Willkür des Staates, der Gemeinden und der Gesellschaft, die sich anmassen, den einzelnen Staatsbürger seinem natürlichen Recht zu entziehen, ihn der ihm ebenfalls verfassungsmässig zustehenden Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetze und dem Rechte zu berauben, über seine Person, sein Eigentum willkürlich, unter Ausschluss jeglichen öffentlichen Verfahrens, unter Vergewaltigung und Verneinung seiner Menschen- und Bürgerrechte zu verfügen.» Ohne also eine Straftat begangen zu haben, ohne gerichtlich verurteilt worden zu sein, wurden vor allem arme Menschen in der Schweiz während Jahrzehnten weggesperrt; ihre Familien wurden auseinandergerissen, Kinder wurden oft gegen den Willen ihrer Eltern in Heime gesteckt, bei Bauern verdingt; Jugendliche oder Erwachsene landeten in Anstalten oder sogar in Gefängnissen. Viele der Weggesperrten hatten einen Vormund und mussten Zwangsarbeit leisten: eine erzwungene, nicht freiwillige Arbeit, die ohne Gerichtsurteil, unter Androhung irgendeiner Strafe ausgeführt werden musste. Loosli spricht von «Staatssklaven»; in »Lagern« führe die Oberschicht einen «Bürgerkrieg gegen Arme und Entrechtete, gegen die von ihr Verwahrlosten». Gegen dieses umfassende Unrecht schrieb Loosli mit aller Schärfe an, gegen diese Klassenjustiz und behördliche Willkür.

Nach der Lektüre von Looslis Buch liess mich der Gedanke nicht mehr los, dass man die Zusammenhänge zwischen dieser Administrativjustiz und dem ANAG untersuchen müsste; wäre es nicht angebracht, analog zum Bürgerkrieg gegen Arme, von einem Krieg gegen armutsbetroffene migrantische Familien zu sprechen, die durch das ANAG legal entrechtet wurden? Müsste man nicht gründlich analysieren, wie der Reichtum dieses Landes auf einem Prinzip der gewaltsamen Entrechtung armer Familien beruht? Und wie wurde dieses Prinzip der Entrechtung ideologisch begründet und genährt? Wäre der Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Ausmass überhaupt möglich gewesen, wenn nicht viele Menschen in (Fabrik)Heimen, Gefängnissen, Bauernhöfen Zwangsarbeit geleistet hätten, Migrantinnen und Migranten mit Saisonnier- und Jahresaufenthalterstatut die schlecht bezahlten Arbeiten im ersten Sektor übernommen hätten? Inwiefern ist das Rotationsprinzip auch als eine Arbeit unter Zwang zu verstehen, von armutsbetroffenen Migrantinnen und Migranten verrichtet, die gezwungen waren, ohne ihre Familie in der Schweiz zu leben, ohne Aufenthaltssicherheit und ohne politische Rechte? 

Einige Politiker wollten Loosli – als Reaktion auf seine Text-Veröffentlichungen – wieder entmündigen und wegsperren lassen, Loosli, dessen unaufhörliche Arbeit lange nach seinem Tod die «Vermenschlichung und geistige Erneuerung des neuen Strafrechts» bewirkte; mit jeder Zeile arbeitete er beherzt und klug am Abbau der ständischen Vorrechte der Oberschicht und damit an der Verwirklichung der Vision, die jedem Menschen, egal welcher Herkunft, die gleichen Rechte und eine nicht verhandelbare Würde zuerkennt.