, Melinda Nadj Abonji

Für Sie gelesen

Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981.

Ja, die Sprache ist nicht die erlebte Wirklichkeit. Ja, die Sprache der Sprachmächtigen spricht oft über die Menschen und nicht mit ihnen. Ja, die Sprache des Schmerzes ist zu schmerzhaft, um überhaupt Sprache zu werden. Ja, die Wörter kommen zu früh oder zu spät, wie Enzensberger schreibt. Und dennoch, mit einer trotzigen Überzeugung formuliert: Die Sprache ist ein kostbarer Schatz, wenn wir anerkennen, dass wir sie nicht besitzen. Und in Bezug auf TESORO: unsere Wirklichkeiten existieren sprachlich noch nicht; unsere erlebten Wirklichkeiten wollen erforscht, erzählt und bezeugt werden, und auch wenn wir den Schatz spät bergen, die Sprache dafür erst noch finden müssen, ist es nicht zu spät. Auch deshalb, weil schon wieder Menschen da sind, die zum Schweigen verurteilt sind.
 
«Weil der Augenblick,
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird,
niemals der glückliche Augenblick ist.
Weil der Verdurstende seinen Durst
nicht über die Lippen bringt.
Weil im Mund der Arbeiterklasse
das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.
Weil wer verzweifelt,
nicht Lust hat zu sagen:
'Ich bin ein Verzweifelnder.'
Weil Orgasmus und Orgasmus
nicht miteinander vereinbar sind.
Weil der Sterbende, statt zu behaupten:
'Ich sterbe jetzt',
nur ein mattes Geräusch vernehmen lässt,
das wir nicht verstehen.
Weil es die Lebenden sind,
die den Toten in den Ohren liegen
mit ihren Schreckensnachrichten.
Weil die Wörter zu spät kommen,
oder zu früh.
Weil es also ein anderer ist,
immer ein anderer,
der da redet,
und weil der,
von dem da die Rede ist,
schweigt.»