, Melinda Nadj Abonji

Für Sie gelesen

Agota Kristof: Die Analphabetin. Autobiographische Erzählung. Piper, München 2010.

Agota Kristof, die 1956 mit einundzwanzig Jahren in die Schweiz flüchten musste, mit ihrem Mann und ihrer viermonatigen Tochter, hat über den Verlust ihrer Sprache geschrieben, das Ungarische, und wie sie ein Leben lang darum kämpfte, das Französische zu lernen. Sie bezeichnete das Französische als «Feindessprache», weil «diese Sprache allmählich meine Muttersprache tötet», so Kristof.
Als ich diesen Satz in «Die Analphabetin» gelesen hatte, war ich unangenehm berührt; der martialische Ausdruck «Feindessprache» erinnerte mich daran, dass ich lange Zeit, ganz im Gegensatz zu Agota Kristof, von einer starken und euphorischen Verbundenheit mit der deutschen Sprache erfüllt gewesen war - Glücksdeutsch hatte ich meine zweite Sprache genannt, da ich mit ihr die Welt des Lesens entdeckt hatte. Dieses innige Sprach-Glück wurde aber während meines Geschichtsstudiums grundsätzlich in Frage gestellt, als ich in die Quellen der nationalsozialistischen Propaganda vor und während des Zweiten Weltkrieges eintauchte. Die Analyse des Totalitarismus, der faschistischen Meinungslenkung brachte mich zur Einsicht, dass die deutsche Sprache - die Sprache von Heinrich von Kleist, Johann Gottfried Herder, Adalbert Stifter, Franz Kafka, Käthe Kollwitz, Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleisser und vielen anderen - nie mehr dieselbe sein würde, wie vor der nationalsozialistischen Machtergreifung. Als Paul Celan mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, stellte er den Untergang der Sprache fest:
«Sie musste hindurchgehen ... durch die tausend Finsternisse todbringender Reden. (...) Bei alledem geht es darum, dass die Begriffe nicht mehr in der Weise gültig sind, in der wir sie früher verwandten.»
Nach der heillosen Verletzung der deutschen Sprache lesen sich Agota Kristofs abgemagerten Sätze ohne Schwulst und falschem Pathos wie ein möglicher Neubeginn; ihr verknapptes Französisch klingt in der deutschen Übersetzung herb, schmucklos, reduziert bis aufs Wesentliche. Als müssten wir endlich zur Besinnung kommen. Gerade weil jedes Wort abgespeckt ist, glüht sein Kern, stellt an uns die unausweichliche Frage: Was tust du mit mir? Was tust du mir an? Wie sprichst du? In seltener Deutlichkeit zeigt sich bei Kristof, dass unser Leben und unser Alphabet unauflöslich miteinander verbunden sind. So sehr, dass wir in Lebensgefahr sind, wenn wir die Sprache verlieren, sie uns geraubt wird.