, Melinda Nadj Abonji

Für Sie gelesen

Victor Klemperer: LTI. Reclam, Dietzingen 2020.

«Die LTI ist ganz darauf gerichtet, den Einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn als Persönlichkeit zu betäuben, ihn zum gedanken- und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom eines rollenden Steinblocks zu machen.»

LTI, die Lingua Tertii Imperii, ist ein grossartiges und riskantes Buch, eines, das eigentlich Pflichtlektüre sein müsste, überall.
Während meines Studiums habe ich etliche Texte über die Propaganda des «Dritten Reiches» gelesen, Quellen studiert, immer wieder erschüttert darüber, wie Sprache als Mittel der Massensuggestion missbraucht, dazu benutzt wurde, die sprachlich vorgeformten Grausamkeiten in die Tat umzusetzen. Victor Klemperers Buch habe ich damals leider nicht gelesen; es stand auf keiner Literaturliste. Sein Buch ist insofern einzigartig, da sich seine philologisch luzide Genauigkeit mit seiner Lebensgeschichte verbindet, denn in jedem Moment drohte der erforschte Gegenstand, drohten jene, die die Sprache zur «Trägerin von Giftstoffen» werden liessen, mit dem Todesurteil: Klemperer war Jude, verheiratet mit einer deutschen Frau und bis zur letzten Minute der nationalsozialistischen Terror-Herrschaft mussten sie um ihr Leben fürchten. Das Schreiben an der LTI und an seinen Tagebüchern bezeichnete Klemperer als «Balancierstange», ohne die er «hundertmal abgestürzt» wäre.
Diese Balancierstange Klemperers ist nun wiederum ein unschätzbar kostbares Werkzeug für unsere Gegenwart, um den Sprachen des entwürdigenden politischen Dogmas mit höchster Aufmerksamkeit und kreativem Widerstand zu begegnen, egal, ob es sich dabei um politische Reden, Gesetzestexte, Todesanzeigen, Liedtexte, Alltagsdialoge oder die Sprache der Bürokratie handelt. Denn das Gift der LTI sickert weiter, denken wir nur an Begriffe wie «Überfremdung», «Gastarbeiter», «Masseneinwanderung», «Sozialschmarotzer», «Islamisten», «Bevölkerungsaustausch» etc.