, Zeugenbericht

Paola De Martin

1.   Warum engagierst du dich für TESORO?
Ich habe die Vereinsgründung initiiert, weil ich 2014 die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) unerträglich fand. Nachdem 2002 das Saisonnierstatut dank der Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU endlich abgeschafft worden war, wurde nun 2014 die Option, den Familiennachzug von Migrant:innen ohne Schweizer Bürgerrecht einzuschränken, wieder in die Verfassung geschrieben. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt eher praktisch solidarisch mit Sans Papiers und Geflüchteten gewesen, meinen Groll gegen die strukturelle Gewalt hatte ich unterdrückt, wenn es um das «Grosse Ganze» ging. Die Annahme der MEI hat mich politisiert. Man muss in dieser Sache einen Gang höher schalten.

2.   Welche persönlichen Erfahrungen verbindest du mit den Anliegen von TESORO?
Ich war wenige Monate alt, als die Fremdenpolizei mich meinen Eltern entriss. Vor allem meine Mutter, aber auch mein Vater wurden dadurch schwer traumatisiert. Er hat bis zu seinem Tod keine Sprache gehabt, um über dieses Trauma zu reden, meine Mutter lebt noch und spricht nur höchst selten und dann extrem codiert darüber. In meiner ganzen Grossfamilie in Italien gibt es keine gemeinsame Sprache, die diese Gewalterfahrung offen benennt. In meinem Bekanntenkreis in der Schweiz ist es meist ein «Partykiller», wenn ich es versuche. Scham und Schuld zirkulieren und schlagen unter den Opfern immer wieder zu, während die Täter:innen weiter im Versteckten profitieren. Ein Teufelskreis. Ohne eine offizielle Anerkennung, Entschuldigung, Aufarbeitung und ohne Debatte über eine angemessene Reparation kann das Trauma nicht geheilt werden. Als Nachkommende, aufgewachsen in einer beschädigten Saisonnierfamilie, habe ich heute die Möglichkeit, meine Stimme gegen das Unrecht zu erheben. Heute gelte ich als «erfolgreich integrierte» Italo-Schweizerin, und ich kann dieses symbolische Kapital im Kampf für die Menschenrechte von allen Partnerschaften, von allen Eltern und allen Familien einsetzen.

Wir waren Opfer, ich will es nicht ein Leben lang bleiben. Darum habe ich Verbündete gesucht und den Verein TESORO gegründet.

3.   Was wünschst du dir für die zukünftigen Generationen?
Für die Ersttraumatisierten, die Eltern, ist es oft zu spät oder es bleibt nicht mehr viel Zeit für die Befreiung aus der verinnerlichten Gewalt. Nicht alle werden die Früchte unserer Bewegung ernten können. Martha Gosteli, die für die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz gekämpft hat, sagte einmal, dass es für gewisse Bewegungen Visionen braucht, die grösser sind als das eigene Leben. Etwas bewegt sich. Meine Mutter sagt es auf ihre Art: «Era già bella allora, la lotta, e ora è maturata.» Das bedeutet, der Kampf für Menschenrechte war damals schon schön, jetzt ist er reif geworden. Es erfüllt mich mit grosser Genugtuung, dass wir junge Leute im Verein TESORO haben, die die begonnene Arbeit weiterführen werden, wenn die Älteren das nicht mehr können. Ich bin überzeugt, dass eine humanitäre Familien- und Migrationspolitik und eine anti-rassistische Biopolitik zentrale Themen der Zukunft sein werden. Was ich den Jungen wünsche: dass das fundamentale Grundrecht auf das Zusammenleben in einer Paarbeziehung oder mit Kindern auch für Menschen, die migrieren selbstverständlich sein wird, wie das Frauenstimmrecht oder die Ehe für alle.